INVESTIGATIONS! Research Project
By: Anke Hagemann &
Natacha Quintero González
Seminar: BTU Cottbus-Senftenberg,
Fachgebiet Stadtplanung
Published on July 12, 2021
Städte bilden Schnittpunkte in translokalen Güterflüssen und Versorgungssystemen. Insbesondere die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln ist – wie die Wasser- oder Energieversorgung – eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren städtischer Lebensweisen. Sie prägt die Beziehungen von Städten zu ihrem Hinterland. In der Geschichte bildete die ständige Expansion der Landwirtschaft und der Mittel des Warentransports eine wesentliche Bedingung für städtisches Wachstum, und heute hat die Lebensmittelversorgung längst eine planetarische Dimension angenommen. Ihre Formen und Abläufe, wie auch die Rituale des Essens, haben sich seit Jahrhunderten in die Architektur der Städte eingeschrieben. Dennoch bleiben die Strukturen der Lebensmittelversorgung meist unter dem Radar der Stadtforschung und -planung.
Im Seminar „Feeding the City“ an der BTU Cottbus-Senftenberg haben wir uns mit den Lieferketten konventioneller Lebensmittel befasst, wie wir sie im Supermarkt oder Discounter in großer Zahl und zu niedrigen Preisen kaufen können: abgepacktes Fabrikbrot, H-Milch, Hähnchenbrust, Bananen oder Fruchtgummis. Wo kommen sie her, welchen Weg nehmen sie und wie formen sie die Räume, durch die sie zirkulieren? Welche Akteur*innen und Regularien bestimmen diese Vorgänge und Zusammenhänge? Studierende der Stadtplanung und Architektur der BTU Cottbus-Senftenberg haben zehn alltägliche Lebensmittel verfolgt: Vom Ort ihres Anbaus oder der Tierhaltung über die Stationen der Lebensmittelindustrie und Distribution bis hin zum Einzelhandel, dem privaten Kühlschrank oder Esstisch und zur Entsorgung der Überbleibsel. Anhand von Kartierungen und Netzwerkdiagrammen haben sie die räumliche Reichweite und die Komplexität der Lieferketten betrachtet, sie haben die gebauten Räume einzelner Stationen und ihre städtischen Kontexte analysiert und schließlich nach der aktuellen oder historischen Präsenz des jeweiligen Produkts in der Stadt Cottbus gefragt. Die Ergebnisse der Kartierungen sind in einer open-access online-Publikation dokumentiert.
RESEARCH TEAM//
Sarah Ajjan Alhadid, Jana Assef, Daniel Cardué, Charlene Jessica Caspar, Mingyun Chen, Julia Fritsche, Wenjie He, Vivienne Heiden, Tim Heinzmann, Juliane Sefina Henkel, Laurin Roman Henklein, Birgit Jeschke, Jannik Kastrup, Noelle Kliesch, Paul Lambrecht, Nils Lampen, Nina Sophie Marquardt, Theres Marthaler, Lars Matthias, Jonas Müller, Gianna Francesca Andrea Mund, Valeria Nohle, Julia Theite Piro, Clara S. G. Benevenuti, Jasmin Schadock, Natalie Schubert, Fath Ainia Senja, Lukas Teschner, Anna Tombroff, Hai Tran, Lara von Thienen, Oliver Wagner, Leonard Zappe, Hanna Zeißig
Das Seminar Feeding the City knüpft in seiner Vorgehensweise an das Seminar Architectures of Circulation an.
von Daniel Cardué, Theres Marthaler, Natalie Schubert, Lukas Teschner
Zucker ist aus der heutigen Lebensmittel-industrie nicht mehr wegzudenken. Ob als reiner Zucker in verschiedensten Sorten im Supermarkt oder als Bestandteil zahl-reicher Lebensmittel – Zucker ist heutzutage omni-präsent.
Mit Zucker ist im alltäglichen Sprachgebrauch meist Kristallzucker bzw. Saccha-rose gemeint. Dieses Produkt wird groß-maß-stäblich und industriell aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben gewonnen. Die Trennung in Rübenzucker und Rohrzucker sowie ihre Konkurrenz zueinander ist ein wesent-licher Nord-Süd-Konflikt im weltweiten Agrarhandel. Die größten Anbauflächen für Zuckerrohr liegen in Brasilien und Indien, während in nahezu allen europäischen Ländern Zucker aus Zuckerrüben erzeugt wird. Dabei haben sich Frankreich, Deutschland und Polen als die größten Zuckerproduktionsländer in der Europäischen Union etabliert.
In Deutschland ist Zucker ein fester Bestandteil der Ernährung. Rund 34,8 kg werden durchschnittlich im Jahr pro Kopf verbraucht (2017/2018). Dabei nehmen wir erhebliche Mengen Zucker „versteckt“ in verarbeiteten Lebensmitteln wie Softdrinks, Ketchup, Pizza oder in Form von Fructose in Äpfeln auf. Der weiß-kristalline Haushaltszucker bildet für eine Vielzahl von Speisen eine geschmackstragende Grundlage. Erhitzt interagiert der Zucker mit Proteinen und verleiht Speisen einen leicht „braun-goldenen Schimmer“. Weiter-hin wirkt sich die Zugabe von Zucker – durch Wasserbindung – konservierend auf Lebensmittel aus und gibt ihnen ein entsprechendes Volumen. Zucker ist für die Speiseeisproduktion von großem Vorteil, da dieser den Gefrierpunkt von Speisen verringert. Darüber hinaus erhöht Zucker auch den Siedepunkt von Lebensmitteln. Diese Eigenschaft findet Anwendung in der Süßwarenproduktion.
Mit Zucker werden heutzutage häufig nur die gesundheitsschädlichen Aspekte verbunden. So erhöht gesteigerter Zuckerkonsum das Risiko für Krankheiten wie Übergewicht, Diabetes oder Karies. Andererseits ist Zucker ein notwendiger Energielieferant, insbesondere für das Gehirn.
Rübenzucker wird z.B. in deutschen und französischen Anbauregionen gewonnen und in regionalen Zuckerfabriken zu Kristallzucker verarbeitet. Dieser dient u.a. als wichtigstes Ausgangsprodukt der Süßwarenindustrie.
Der hier abgebildete Herstellungsprozess zur Zuckergewinnung beginnt in den Anbauregionen Mittel- und Westeuropas. Zu den größten Zuckerrübenproduzent*innen nach Ertragsmenge zählen Frankreich und Deutschland (Stand 2019). Die Fruchtgummifabrik der Katjes-Fassin-Gruppe bezieht Zucker aus beiden Ländern. Daher zeigen wir die ersten Schritte der Zuckergewinnung hier beispielhaft in Deutschland und Frankreich: Die Zuckerrüben werden von lokalen Agrargesellschaften in der Picardie (Nordfrankreich) und am Oberrhein (Südwestdeutschland) angebaut. Über direkte Vertriebswege gelangen die Zuckerrüben in die regionalen Zuckerfabriken der Südzucker AG in Roye (FR) und Offstein (D). Im industriellen Fabrikationsprozess wird der Rohstoff Zuckerrübe zu weißem Kristallzucker verarbeitet. Die entstandenen Nebenprodukte Melasse, Carbokalk und Pressschnitzel werden in die Landwirtschaft zurückgeführt.
Der final produzierte weiße Kristallzucker dient vor allem als Ausgangsprodukt für die weitere industrielle Verarbeitung. Die Süßwarenindustrie ist die größte Abnehmerin für Saccharose. Dazu gehört auch die Katjes-Fassin-Gruppe mit der Produktion von Fruchtgummis. Ihre Produkte, z.B. „Wunderland Rainbow-Edition“, sind in einer Vielzahl von Supermarktregalen zu finden, so auch in einer Edeka-Filiale in der Cottbuser Innenstadt.
Der überregionale Zuckermarkt wird von wenigen großindustriellen Unternehmen bestimmt, welche einen starken Markteinfluss haben. Zucker gelangt in Form von immer neuen, hochgradig verarbeiteten Süßwaren in die Supermärkte.
In der Europäischen Union gibt es 42.000 Anbaubetriebe mit einer gesamten Anbaufläche von 396.000 ha. In Deutschland werden 127.000 ha von 18.000 Betrieben bewirtschaftet. Unterschiedliche Anbausubventionen sorgen für Ungleichgewicht auf dem europäischen Agrarmarkt. Der Zuckerrüben-anbau war u.a. aufgrund von Quoten jahrzehntelang eine lukrative Einnahmequelle für viele Landwirt*innen. Mittlerweile wurde der Markt liberalisiert – besonders zum Nachteil zahlreicher kleinerer Akteur*innen. Die großen verarbeitenden Fabriken haben oft ein regionales Monopol. Die Südzucker AG ist Weltmarktführerin in der Zuckerproduktion. Ihr Einfluss wird deutlich, wenn man das europäische Netz firmeneigener Produktionsstandorte betrachtet. Das Unternehmen agiert vor allem in Europa. Weltweit werden rund 19.200 Mitarbeiter-*innen beschäftigt. Die Südzucker AG versucht, auf eine Vielzahl von Akteur*innen der gesamten Wertschöp--fungs-kette Einfluss auszuüben. So werden den Agrarbetrieben z.B. Empfehlungen für Rübensorten ge-geben. Endverbraucher*innen profitieren von niedrigen Preisen im Supermarkt.
Kat-jes ist der drittgrößte deutsche Süßwarenhersteller. Das Unternehmen bezieht sei-nen Zucker zu großen Teilen von der Süd-zucker AG. So gelangt der Rohstoff als stark verarbeitetes Endprodukt zu den Verbraucher*innen. Der interne Pro-duktionsprozess ist hochkomplex und stark automatisiert. Eine Vielzahl weiterer industrieller Zutaten wird zur Erzeugung der Fruchtgummi-Sorte benötigt, welche in 200-Gramm-Packungen im Supermarktregal landet. Allein das Werk in Emmerich am Rhein produziert ca. 1 Mio. Packungen am Tag.
Die historisch gewachsene Zuckerfabrik in Offstein steht in starkem Kontrast zu ihrem ländlichen Umfeld.
Das traditionsreiche und großindustriel-le Werk der Südzucker AG in Offstein repräsentiert den markantesten Raumtyp der Zuckerindustrie. Die Zuckerproduktion in Offstein begann bereits 1850, als noch auf den Rohstoff Kartoffeln zurückgegriffen wurde. Mit der Gründung und Inbetriebnahme der Zuckerrübenfabrik 1883/84 begann die Produktion von Kristallzucker. 1887/88 erfolgte der Bau eines Eisenbahnanschlusses. Wie in der Axonometrie zu sehen, wurde das Werk über die Jahre kontinuierlich erweitert und vergrößert. So kam etwa 1965 ein neues Verwaltungsgebäude mit Sozialbau und Arbeiter*innenwohnheim dazu. Ab 1985 begann eine umfassende Modernisierung. Im Jahr 1988 wurde der Eisenbahntransport eingestellt. Die anliegenden Teichanlagen, welche zur Aufbereitung von Abwasser dienten, sind seit 1999 als Europäisches Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Das Werk wird sich vermutlich auch in Zukunft regelmäßig optimieren und erweitern.
Die sowohl großflächigen als auch vertikalen Ausmaße der Zuckerfabrik Offstein stellen einen starken räumlichen Kontrast zur ländlichen Region mit dörflichen Siedlungsstrukturen dar. Historisch gewachsene Zuckerfabriken bilden vielerorts räumliche Ikonen, die sich eindrucksvoll von ihrem agrarischen Umland abheben. So ist das Werk Offstein mit seiner über 135 Jahre alten Industriegeschichte in die durch Weinanbau geprägte Landschaft der Pfalz eingebettet.
Zucker ist ein Alltagsprodukt mit einer starken Präsenz im Lebensmittelangebot wie auch im Stadtraum.
Das Lebensmittel Zucker kann im Cottbuser Stadtraum vielfältig und oft unsichtbar gekauft und konsumiert werden. In seiner Form als weißer Kristallzucker wird das Produkt vor allem im Lebensmitteleinzelhandel vertrieben. Hierzu zählen diverse Discounter, Supermärkte, Bioläden, Drogerien oder Spätverkäufe. Zucker ist aber auch in verarbeiteter Form in den komplexen Produkten der Lebensmittelherstellung allgegenwärtig. Sei es in Teig-, Süß- oder Backwaren, wie dem Cottbuser Baumkuchen, in der Pizza Amarone oder im Speiseeis vom Café Da Capo. Diverse Lokalitäten rund um den Cott-buser Altmarkt und die historische Fuß-gängermeile „Sprem“ verkaufen Zucker in verschiedener Form.
Auch außerhalb des stationären Handels wird Zucker im Stadtraum vertrieben und konsumiert. Zum Beispiel bei saisonalen Veranstaltungen (Stadtfest, Erntedankfest oder Weihnachtsmarkt) und regelmäßigen Märkten auf der Spremberger Straße, dem Berliner Platz oder am Stadtbrunnen. Zudem bieten gastronomische Außenflächen und Verkaufs-stände Zucker zum Verzehr an.
Im Gegensatz zu Regalen in Supermärkten mit ein und demselben Produkt unterschiedlichster Hersteller*innen begrenzen die Spätverkäufe ihre Produkttiefe auf alltägliche Lebensmittel. Ein Blick in das Regal des Spätwarenverkaufs „Cotti“ verrät, dass in einer Vielzahl von Lebensmitteln Zucker direkt oder verarbeitet enthalten ist. Produkte der Lebensmittelindustrie mit maximal 5 g Zucker pro 100 g werden als zuckerarm deklariert, während Waren mit nicht mehr als 0,5 g Zucker pro 100 g als zuckerfrei vertrieben werden. Ausgehend vom durchschnittlichen deutschen Zucker-verbrauch haben im Jahr 2018 alle 101.036 Einwohner*innen der Stadt Cottbus zusammen etwa 3.516.052,8 kg reinen Zucker konsumiert. Diese Dimension verdeutlicht, dass Zucker ein allgegenwärtiges Alltags-produkt mit einer starken Präsenz auf dem Lebensmittelmarkt ist.
BB2040
[EN] Berlin Brandenburg 2040 was initiated by the Habitat Unit in cooperation with Projekte International and provides an open stage and platform for multiple contributions of departments and students of the Technical University Berlin and beyond. The project is funded by the Robert Bosch Foundation.
[DE] Berlin Brandenburg 2040 wurde initiiert von der Habitat Unit in Kooperation mit Projekte International und bietet eine offene Plattform für Beiträge von Fachgebieten und Studierenden der Technischen Universität Berlin und darüberhinaus. Das Projekt wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.